Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

 

Beloki, Armstrong und Ullrich

Predigt nach der Tour de France im August 2003

 

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch an die spannende Tour de France? Vor vier Wochen ging sie mit dem knappen Sieg von Lance Armstrong in Paris zu Ende. Die völlig überraschende Leistung von Jan Ullrich zog viel mehr Menschen vor die TV-Bildschirme als in den Jahren zuvor.

Trotzdem: ist es nicht höchst verwunderlich, dass sich Abertausende Tag für Tag zum Teil sechs Stunden vor den Fernsehern einfanden, um 180 Menschen beim Radfahren zu zu schauen?! Und dabei keineswegs nur Radsportliebhaber. Was ist der Reiz der Tour de France?

Ich denke, das hat etwas damit zu tun, dass diese Sportart - so im TV präsentiert - die einzelnen Fahrer "persönlicher" überbringen kann als andere Sportarten. Leichtathleten sehen wir nur minutenlang, Fußballer nur aus großer Entfernung. Die Kameras von den Motorrädern erfassen die Gesichtszüge, lassen die Anstrengung ahnen und die Entschlossenheit deutlich werden, aber auch die Enttäuschung und die Resignation bei der Aufgabe.

So werden diese Sportler zu Vor-Bildern. Wir fiebern nicht nur mit, sondern sehen hier auch ganz und gar menschliche Regungen in den Rennfahrern. Sicher, die körperliche Leistung ist hier auf einem Niveau, an die kaum jemand herankommt. Aber die kleinen und großen Dramen und Erfolgsgeschichten, die hinter den Fahrern in diesen drei Wochen sichtbar werden, die rühren etwas in uns an. Weil auch wir Normalsterblichen solche Erfahrungen kennen. Wenn auch in anderen Zusammenhängen. Und so fühlen, leiden, jubeln wir mit den Fahrern, weil sie Menschen sind wie du und ich. Drei Fahrer möchte ich beleuchten.

Beginnen möchte ich mit Lance Armstrong. Man nennt ihn auch den Patron der Tour. Vor Jahren noch todkrank an Hodenkrebs erkrankt. Jetzt fünfmaliger Toursieger. Was für eine Leistung! Und in diesem Jahr mit ungeahnten Schwächen und Problemen. Unterwegs kam der Plan gerät ins Wanken, man sah seinem Gesicht den Zweifel an. Doch als viele glaubten (und hofften), Armstrong wäre bezwungen, da kam er zurück. Vielleicht haben einige von Ihnen diesen Sturz gesehen, als Armstrong in den Pyrenäen zu dicht an einem Zuschauer vorbeifährt und an ihm hängen bleibt. Wütend über sich selbst, so gibt er hinterher zu, geht er zum Gegenangriff über, zieht aus dem Adrenalinschub eine ungeahnte Kraft und fährt den letztlich entscheidenden Vorsprung heraus. 

Dann natürlich Jan Ullrich. Vor einem Jahr noch ganz unten. Verletzungen, Alkohol, verbotene Mittelchen, Verlust von Verträgen und Ansehen. Er kommt zurück. Gerade Vater geworden. Und was keiner geglaubt hätte, er ist ein ebenbürtiger Gegner. Kann Armstrong angreifen. Hat aus den Erfahrungen des letzten Jahres soviel gelernt. Kämpft sich in glühender Hitze auf dem Rad an Armstrong heran und in die Herzen nicht nur der deutschen Radsportfans hinein. Gesteht später, dass er kurz vor dem Aufgeben stand wegen Magenproblemen.  Dann das entscheidende Zeitfahren im strömenden Regen, Ullrich stürzt, verliert den Angriff auf den Gesamtsieg. Strahlt dennoch am nächsten Tag auf dem Podium in Paris. Einer, der ganz unten war und dann wieder nach oben gekommen ist.

Und schließlich Joseba Beloki. Für mich der tragische Held dieser Rundfahrt. Schon zweimal war er Dritter, letztes Jahr Zweiter. Will in diesem Jahr den Toursieg. Kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Seiner Frau will er zur Geburt den Toursieg schenken. Ist so gut in Form wie vielleicht noch nie. Ganz nah dran an Armstrong und Ullrich. Dann der furchtbare Sturz kurz vor Gap. Hundertmal gezeigt im TV. Beloki schlingert rechts und links, knallt mit dem Rad auf den Boden. Oberschenkelhalsbruch. Handgelenkbruch. Die Tour ist für Beloki zu Ende. Aus der Traum, von einem Moment auf den anderen.

Drei Männer, drei Geschichten. Geschehen in diesem Juli auf den Strassen Frankreichs. Aber nicht nur dort. Solche Geschichten geschehen immer wieder. Auch in Voerde. Auch schon zu biblischer Zeit.

Ich habe überlegt, welche biblischen Persönlichkeiten mir einfallen, wenn ich an Armstrongs, Ullrichs und Belokis Erlebnisse denke.

Bei Lance Armstrong war es am schwierigsten. Schließlich dachte ich, seine Geschichte erinnert mich an Paulus. Die Erscheinung Jesu vor Damaskus verändert sein Leben so wie Armstrong in seiner Biographie deutlich macht, was die Krebskrankheit in ihm verändert hat. Danach sind beide unermüdlich und zielstrebig. Der eine will sich sportlich unsterblich machen, der andere reist wie ein Getriebener durch Europa, um das Evangelium zu verkünden. Rückschläge gab es auch bei Paulus, aber er ließ sich nie entmutigen. Und er erreicht sein Ziel, einmal nach Rom zu kommen.

Bei Jan Ullrich fiel mir Petrus ein. Auch Petrus war ganz unten. Zunächst ein Strahlemann wie Ullrich, Vorzeigejünger bei Jesus. Und dann übernahm er sich wie Ullrich im letzten Jahr. Vollmundig sagt er Jesus bedingungslose Treue zu und muss Stunden später bitterlich weinend erkennen, dass er den Mund zu voll genommen hat. Als der Hahn kräht, hat er Jesus dreimal verleugnet. Aber Petrus kommt zurück, Jesus läßt ihn nicht fallen und als geläuterter Mensch baut Petrus die Urgemeinde in Jerusalem auf, erfolgreich, aber auch nicht ohne Schwächen. So ähnlich Jan Ullrich.

Und dann Joseba Beloki. In der Sekunde seines Sturzes wird ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Ein Jahr Training, Schinderei, endlose, langweilige Trainingskilometer völlig umsonst. Alle Träume zerplatzt. Ähnlich bei Hiob. Auch der verliert alles, worauf er gesetzt hat. Und noch viel mehr als Beloki. Er verliert buchstäblich alles, Haus, Familie. Aber ähnlich ist - es geschieht von einem Moment auf den anderen. Das ganze Leben sieht anders aus.

Armstrong, Ullrich und Beloki. Paulus, Petrus und Hiob Vor-Bilder allgemein menschlicher Erfahrungen. Die modernen Vorbilder stehen uns näher, sind uns durch Fernsehen und andere Medien vertrauter. Wenn wir sie verbinden mit den Erfahrungen biblischen Persönlichkeiten, öffnen sich diese Vor-Bilder für den geistlichen Horizont. Die Erfahrungen heutiger Vor-Bilder sind geeignet, mir auch die biblischen Persönlichkeiten plastischer vorstellen zu können.  Und damit ihre Gotteserfahrungen. Damit meine ich nicht, dass Beloki, Ullrich und Armstrong nun besonders gläubige Menschen wären. Das weiß ich nicht und das ist auch deren Sache. Aber ihre Erfahrungen, die Abertausende in diesem Sommer ziemlich hautnah am Bildschirm miterlebt haben, laden uns ein, über uns und unser Leben nachzudenken. Sie faszinieren und berühren. Da stellen sich in den langen Stunden, die wir am Fernseher auf den Strassen Frankreichs mit unterwegs waren Fragen: Wie gehst du damit um, wenn deine Träume im Staub zerstieben? Bin ich in der Lage mir Ziele zu setzen? Und diese konsequent zu verfolgen? Kann ich kämpfen, wenn es um etwas geht, was mir sehr wichtig ist? Bin ich in der Lage, aus Fehlern zu lernen, Tiefschläge zu überwinden? Was wäre für mich die größte Katastrophe im Leben?

Die biblischen Vor-Bilder in solchen Erfahrungen öffnen mir dabei den Horizont Gottes. Er war bereit mit Hiob zu streiten, als der mit seinem Schicksal haderte. Er war bereit, dem Petrus zu vergeben, als der sich völlig vergaloppiert hatte. Er gab dem Paulus Kraft und Vertrauen auf den schier endlosen Wegen durch Europa im Auftrag des Herrn.

Und so auch uns. Beloki, Armstrong und Ullrich berühren uns, weil wir uns in ihnen widerspiegeln können - und sei es in der Weise, das wir sagen, das könnte ich nie. Auch das sagt mir etwas über mich selbst. Aber so oder so, sie machen menschliche Erfahrungen wie schon die biblischen Persönlichkeiten vor uns. Und die machten die Erfahrung, dass Gott als Gegenüber ansprechbar ist und bleibt. In den guten Zeiten wie den schweren. Gut zu wissen und darauf zu vertrauen.

Amen.

 

Nachbemerkung:
Als ich die Predigt hielt, fiel mir noch auf, dass bei allen dreien - Armstrong, Beloki und Ullrich - die Frage, wie die Tour 2003 zu bewerten sei, sich an einem Sturz entscheidet. Das war mir vorher gar nicht so aufgefallen. - Im "normalen" Leben: sind es nicht oftmals die Situationen, in denen wir "auf die Schnauze fallen", aus denen wir am meisten lernen?